Die Grundsteinlegung und ihre Vorgeschichte
Mit den Worten: „Der Bau erhebe sich zur Ehre Gottes, zum Segen der Gemeinde, zur weiteren Zierde unserer Stadt“
setzte Kommerzienrat Emanuel Alexander-Katz als Vorsteher der Jüdischen Gemeinde und Vorsitzender des Bauausschusses am 19. Mai 1909 den Grundstein zur neuen Synagoge in Görlitz. Weitere ähnliche Wünsche schlossen sich an, so sprach Oberbürgermeister Georg Snay zu seinem Hammerschlag: „Zum Ruhme des allmächtigen Gottes, / Zum Segen der Gemeinde, / Zum Lobe treuer opferwilliger Arbeit“, während der Architekt Max Hans Kühne die Worte wählte: „Gott zur Ehre, / Der Gemeinde zur Erbauung, / Der Stadt zur Zierde“ Gut versiegelt wurde zudem eine Urkunde in den Grundstein eingefügt, deren Schlussworte ähnlich lauteten: „…möge er [der Bau] neben den anderen Gotteshäusern unserer Stadt auch Zeugnis geben für den Frieden und die Eintracht, in der wir mit den Bekennern der anderen Konfessionen leben, vereint mit ihnen überall, wo es gilt, Gutes zu schaffen, Not zu lindern, Kunst und Wissenschaft zu fördern, den Ruhm des Vaterlandes zu erhöhen, für das Heil unserer geliebten Vaterstadt zu wirken. Dazu gebe Gott seinen Segen.“ Die Weiheansprache hielt der damals schon achtzigjährige Rabbiner Dr. Siegfried Freund (1829-1914), der das Wachsen und Werden der Görlitzer jüdischen Gemeinde seit ihren Anfängen begleitet und maßgeblich geprägt hatte. Mit großer Würde feierte man 1909 ein Ereignis, das keineswegs nur die Jüdische Gemeinde mit Stolz und Freude erfüllte, sondern an dem auch die ganze städtische Öffentlichkeit teilnahm: ein Vertreter der Landesregierung, der Oberbürgermeister, Stadträte, Vorsteher der Kirchen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.
Die damals von Robert Scholz aufgenommenen Fotos zeigen die Festgemeinde auf dem Bauplatz zwischen den noch ganz neuen Villen in der Nachbarschaft Rund 200 Menschen versammelten sich bei „lichtem Maisonnenschein“, wie der Neue Görlitzer Anzeiger überliefert. Alle Damen und Herren waren festlich gekleidet, andächtig, neugierig, froh. In der Nordostecke des zukünftigen Baus war eine kleine Grube für den Grundstein ausgehoben. Für die nichtjüdische Öffentlichkeit stellte der in Aussicht stehende Bau nach der Errichtung von Kaiserdenkmälern, der Oberlausitzer Gedenkhalle und der in Bau befindlichen Stadthalle einen weiteren Beitrag dazu dar, Görlitz ein großstädtisches Antlitz zu verleihen. Die neue Synagoge wurde als Bereicherung des Stadtbildes angesehen, als Ausdruck moderner Urbanität, auch als Zeichen für den in kurzer Zeit gewachsenen Pluralismus und eine neue Offenheit, wie dies ähnlich die katholischen Kirchen (Heilig Kreuz direkt neben der Synagoge; St. Jakobus oberhalb des Bahnhofes), die damals bereits vorhandenen oder in Erweiterung begriffenen Bahnhöfe, Brücken, Verwaltungs- und Kulturbauten anzeigten. Für Rabbiner Siegfried Freund, die Mäzene und Förderer des Neubaus sowie für die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde stellte die feierliche Grundsteinlegung aber noch etwas Anderes dar: Der öffentliche Akt brachte symbolisch die Hoffnung auf den Anbruch einer neuen Zeit zum Ausdruck – einer Epoche, in welcher der eigene Kultus nicht mehr versteckt und bescheiden in einem Hinterhof gepflegt werden muss. Mit der Grundsteinlegung schien sich abzuzeichnen, dass fortan die Jüdische Gemeinde eine selbstverständliche Präsenz in bester Lage inmitten der Stadt, in einem prächtigen und großzügigen Bau entfalten werde – zum ersten Mal in der Görlitzer Geschichte. Und zwar in einem festlichen Haus, für das man die besten erreichbaren Architekten und Künstlern gewinnen wollte, damit es sich im Bild der Stadt behaupten könne.
In der Weiherede nahm Rabbiner Freund darauf Bezug, wenn er die geschichtliche Dimension kurz benannte: „Noch sind es nur wenig über 50 Jahre, bis wohin den Juden die ständige Niederlassung in dieser schönen Stadt gewehrt war, und heute – das ist die siegreiche Macht, die einen sagen vielleicht der Kultur, sagen wir der wahren Religion, die mit der Kultur ja eng verbrüdert ist, – und heute legen wir zum dritten Male den Grund zu einem Gotteshause, aber zum ersten Male auf eigenem Grund und Boden.“ Mit Bedacht verwies Rabbiner Freund darauf, dass es die dritte Grundsteinlegung für einen Synagogenbau in Görlitz war.
Die erste bekannte Synagoge entstand hier im 13./14. Jahrhundert. Sie befand sich in der heutigen Langenstraße und war immerhin ein so bedeutendes Bauwerk, dass man es nach der damaligen Vertreibung der Juden in eine Kirche umgestalten wollte, was aber nicht geschah. Es dauerte dann über 450 Jahre, bis sich wieder eine jüdische Gemeinschaft in Görlitz bilden und an die Errichtung einer Synagoge gedacht werden konnte. 1850 erfolgte die Gründung der Gemeinde. Zunächst richtete sie sich die Erdgeschosshalle im Haus Nikolaistraße 10 als Versammlungs- und Betraum ein. Drei Jahre später fand der feierliche Einzug in die eigene – nunmehr zweite Görlitzer – Synagoge statt.
Hinter dem Gasthof „Zum Weißen Roß“ am Obermarkt hatte die Gemeinde ein Saalgebäude erworben, das bislang Theateraufführungen diente. Zunächst wurde es nur geringfügig hergerichtet, mit einem Thoraschrank, einem Lesepult und Bänken ausgestattet. Nachdem die Gemeinde sich aber stark entwickelt und hinsichtlich der Mitglieder in fünfzehn Jahren mehr als verdoppelt hatte, schritt man zu einem Ausbau: Nach Plänen des Ratsmaurermeisters Rudolph Sahr erfolgte 1869 eine Erweiterung und Neugestaltung. Zum Vorgarten an der Langenstraße erhielt die Synagoge eine repräsentative Fassade mit bekrönendem Davidstern. Schon zur Weihe dieses Hauses 1870 hatte man den Magistrat eingeladen und erstmals ein großes Gemeindefest gefeiert, an dem auch die nichtjüdische Öffentlichkeit der Stadt teilnahm. Die erneuerte Synagoge in der Langenstraße erfüllte nun zwar ihren Zweck besser als zuvor, war mit ihrer neuen Fassade auch nach außen hin wahrnehmbar. Aber sie blieb doch verborgen, eine Hinterhofsynagoge, die dem eigenen Verständnis und Selbstbewusstsein der aufstrebenden Gemeinde immer weniger entsprach. Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts glaubte man sich auch in Görlitz wirtschaftlich und gesellschaftlich in der Stadt und ihrer Öffentlichkeit angekommen. So gründeten vorausschauende Gemeindeglieder schon anlässlich der besagten Synagogenweihe 1870 einen Baufonds für eine neue Synagoge. Aus anfänglichen 4.500 Mark wuchs dieses Kapital bis 1909 auf 220.500 Mark. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Gemeindeglieder durchaus nicht begütert waren, als Händler, Arbeiter und Angestellte nur bescheiden lebten, ist diese Summe erstaunlich. Möglich war sie nur dank vieler Einzelspenden. An vorderster Stelle ist Emanuel Alexander-Katz (1833-1914) zu nennen, der sich den Neubau der Synagoge zum persönlichen Ziel gesetzt hatte. Er war Kaufmann, Unternehmer, hatte sich durch sein wirtschaftliches Wirken den Titel eines Kommerzienrates erworben und war seit 1897 Stadtverordneter. Mit großem Engagement zu Wohlstand und Ansehen gekommen, war es ihm ein besonderes Anliegen, gemäß der jüdischen Gesetze andere, denen es weniger gut ging, mit seinen Möglichkeiten zu unterstützen. Und zusätzlich hatte er die Vision, der glücklichen Entwicklung der Jüdischen Gemeinde mit dem Bau einer repräsentativen Synagoge eine Krone aufzusetzen, ein Symbol dafür zu schaffen, dass das Judentum in der Mitte der Görlitzer Gesellschaft angekommen ist. Mit Sammlungen und enormen privaten Geldspenden beförderte er das Projekt. Sein wichtigster Beitrag war aber, dass er 1907 von der Stadt Görlitz das Grundstück erwarb, auf dem die Synagoge errichtet werden sollte und dieses der Gemeinde schenkte. Bewusst wählte er nicht ein Areal in der westlichen Innenstadt, in der Süd- oder der Oststadt, sondern entschied sich für ein Grundstück in vornehmster Lage, direkt am Stadtpark: von allen Stadtteilen gut zu Fuß erreichbar, in der unmittelbaren Nähe unverbaubar, in einer ruhigen Villenstraße und doch im Zentrum, nahe der Stadthalle und Reichenberger Brücke (Stadtbrücke bzw. heutige Johannes-Paul IL-Brücke), gleich bei dem im Bau befindlichen Kreisamt und der Katholischen Kirche.
Das für Villenbebauung vorgesehene Grundstück war teuer, es kostete 70.425 Mark. Insgesamt hatte Emanuel Alexander Katz weit über 100.000 Mark für die Synagoge aufgewendet. Zu Recht wurde ihm später eine Tafel in der Eingangshalle gewidmet, zu Recht heißt es in seinem Nachruf 1914 in der Chronik der Synagogengemeinde: „Seine Fürsorge für die Gemeinde zeigte er besonders in mehrmaligen namhaften Stiftungen durch die er es ermöglichte, daß der schöne Tempel – eine Zierde unserer Vaterstadt – erbaut werden konnte. Seiner Großmut in allererster Reihe verdanken wir unser wunderschönes Gotteshaus, mit dem er sich ein unvergängliches Denkmal gesetzt hat.“ Es war daher selbstverständlich, dass Emanuel Alexander-Katz das Präsidium der am 7. Februar 1909 gebildeten Baukommission übernahm, welcher zudem sein Neffe Arthur, der Rabbiner Siegfried Freund und der Kaufmann, Kommerzienrat und Mäzen Martin Ephraim angehörten. In kürzester Zeit wurde mit Unterstützung des Görlitzer Architekten und Bauunternehmers N. Rump ein beschränkter Wettbewerb mit funktionalen Vorgaben und einer festen Bausumme von 250.000 Mark ausgeschrieben. Grundlegend waren die Berücksichtigung der religiösen Vorschriften und Prinzipien wie die eindeutige Orientierung des Baus, dazu auch eine klare Funktionalität in allen Raumbereichen, eine Kapazität von 550 Sitzplätzen für den Hauptraum und 40 Plätzen für Sänger, ein kleiner Betsaal (Wochentagssynagoge), ein Empfangsraum als Foyer und für Trauungen, Zimmer für Rabbiner und Kantor u. a. Zum Wettbewerb eingeladen waren zehn Architekturbüros, darunter mehrere, die schon im Synagogenbau erfahren waren oder gerade dabei waren, eine Synagoge zu errichten. Die prominent besetzte Jury kam bald zusammen. Es war Emanuel Alexander-Katz gelungen, neben dem genannten Görlitzer Architekten Rump sowie dem Stadtbaurat Uhlig einige der gesamtdeutsch führenden Architekten für das Preisgericht zu gewinnen: Hermann Muthesius (1861-1927) aus Berlin, bekannt für seine Landhausarchitektur; der Dresdner Stadtbaurat Hans Erlwein (1872-1914), der in Bamberg und Dresden wegweisend-funktionale Bauten errichtet hatte; der Dresdner Akademieprofessor Paul Wallot (1841-1912), Architekt des Berliner Reichstages und des Dresdner Ständehauses. Alle drei gelten heute als wegweisende Reformer, die den Historismus des 19. Jahrhunderts überwanden. Sie waren prägende Erneuerer der modernen deutschen Architektur vor dem Ersten Weltkrieg. Keiner davon war Jude, keiner hatte mit Synagogenarchitektur einschlägige Erfahrung. Das schien weniger wichtig als die formale Lösung – für die kultischen Anforderungen waren die Vertreter der Gemeinde zuständig, insbesondere Rabbiner Siegfried Freund, der sich aus Berlin, Frankfurt, Posen und anderswo Rat und Empfehlungen eingeholt hatte. Interessanterweise hatten Lossow & Kühne (Dresden) gleich zwei Beiträge zum Wettbewerb geliefert und beide kamen in die engere Wahl.21 Ihr Projekt „Stern" erhielt den 1. und „Jehova" den 2. Preis (1.500 und 1.000 Mark). Der 3. Preis (700 Mark) ging an Cremer & Wolffenstein für den Entwurf „Einfach und klar", während die Beiträge von Hoeniger & Sedelmeier sowie Heidenreich & Michel für jeweils 400 Mark angekauft wurden.
Lossow & Kühne wurden mit der Ausführungsplanung beauftragt, wobei der Hauptplaner, Prof. Hans Max Kühne, vom Synagogenvorstand umgehend auf mehrere Studienreisen zu aktuellen Synagogenbauten eingeladen wurde. Diese Reisen führten am 7. und 8. Juni 1909 nach Glogau/Gtogów, Lissa/ Leszno, Posen/ Poznañ und Hohensalza/Inowroctaw sowie am 21. Juni nach Dessau. Der glücklicherweise erhaltene Reisebericht überliefert, dass die besuchten Synagogen sehr genau betrachtet und hinsichtlich Baumängeln, konzeptionellen oder konstruktiven Schwachstellen geprüft wurden. Dabei interessierten sowohl Fragen der Akustik, der Beleuchtung, des Gestühls und der Heizung. Während diesbezüglich die Reisegesellschaft vor allem von der Posener Synagoge überzeugt war, fand der Bau in Hohensalza keine Zustimmung und wurde gar als Negativbeispiel eines Synagogenbaus bezeichnet. Für den mit dem Ausführungsprojekt betrauten Architekten erbrachte die Fahrt auf jeden Fall große Klarheit über die weiteren Vorstellungen und Ansprüche der Bauherrschaft. William Lossow (1852-1914) und Max Hans Kühne (1874-1942) betrieben eines der damals erfolgreichsten Architekturbüros in Dresden, das sich einer internationalen Ausstrahlung erfreute. Sie hatten jedoch zuvor noch keinen jüdischen Kultbau realisiert. Die Formensprache ihres Büros musste aber dessen ungeachtet offensichtlich den Nerv der Görlitzer Jury ebenso wie denjenigen vieler anderer Zeitgenossen getroffen haben – etliche Kirchenbauten, zahlreiche Villen und Gesellschaftshäuser, Geschäftshäuser, technische Bauten realisierten William Lossow und seine Partner Hermann Viehweger sowie ab 1906 Max Hans Kühne zusammen mit einer großen Zahl von Mitarbeitern dank effizienter Planung in rascher Folge. Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des Görlitzer Synagogenwettbewerbes waren als Großprojekte die Kunstgewerbeschule und das zugehörige Kunstgewerbemuseum in Dresden fertig gestellt (1907), der Leipziger Hauptbahnhof – das größte Vorhaben des Büros – gerade begonnen (1909-1915), ebenso die Talsperre Malter (1909-1913) und die evangelischen Kirchen Kipsdorf (1907/1908) und Zinnwald eben vollendet oder kurz vor der Vollendung stehend (1908-1909).
Mit dem kurz zuvor aus dem Büro ausgeschiedenen und zwischen 1903 und 1907 bei Lossow & Viehweger als Entwerfer tätigen Architekten Rudolf Bitzan hatte ein ins Blockhaft-Klassische, ins Monumentale tendierender Zug tektonisch in den Stil des Büros Einzug gehalten - und damit auch technisch die frühe Moderne in einem bisher mehr dem späten Historismus verpflichteten Umfeld. So hatte Bitzan den Wettbewerbsentwurf von Lossow & Viehweger für den Leipziger Hauptbahnhof 1906 – dessen Ausführung erfolgte parallel zum Görlitzer Synagogenbau – maßgeblich geprägt. Angesichts dieser formalen und stilistischen Haltung dürfte Bitzans Einfluss letztlich auch für den hauptsächlich Max Hans Kühne zu verdankenden Görlitzer Ausführungsentwurf eine Rolle gespielt haben. Dafür spricht, dass Bitzans (nicht zur Ausführung gewählter) Beitrag im Wettbewerb zur Essener Synagoge von 1907 typologisch, funktional und in Einzelformen dem Ausführungsprojekt der Görlitzer Synagoge nahe verwandt ist.
Ein weiterer Beleg für Bitzans Verbindung zur Görlitzer Synagoge liefert zudem dessen 1909-1910 im nordböhmischen Friedland/ Frýdlant für den jüdischen Anwalt Samuel Glück errichtete Villa, deren Halle nicht nur das charakteristische Fenstermotiv, sondern vor allem auch den Löwenfries aus Görlitz zitiert. In Görlitz selbst realisierte Bitzan einige Jahre später zudem mit der 1913-1916 errichteten Kreuzkirche den bedeutendsten Sakralbau der frühen Moderne in einem weiten Umkreis, der formal und typologisch ein evangelisches Pendant zur Synagoge darstellt. Während der Errichtung der Kreuzkirche entwarf er 1914 zudem das Geschäftshaus Erich Funke am Demianiplatz 14.
Das Projekt von Lossow & Kühne
Was war es nun aber genau, was die Jury für den Görlitzer Synagogenbau bei ihrer Auslobung des Siegerprojektes am 29. April 1909 – nur drei Wochen vor der Grundsteinlegung! – für den erstplatzierten Entwurf eingenommen hatte? Nach den Zeitungsberichten waren besonders die vorteilhafte Bebauung des Terrains, die zweckentsprechende Anordnung der Innenplätze, die effektvolle Raumgestaltung und die markante Baugestalt ausschlaggebend gewesen – das imposante Äußere. Lossow und Kühne hatten einen ganz individuellen, in Form und Erscheinung eigenen Bau entworfen. Seine Monumentalität und gleichzeitige Zurückhaltung, ja Schlichtheit, der Verzicht auf eine eindeutige formale Herleitung und Bezugnahme, die Modernität der geplanten Ausführung mit Stahlskelett und Beton das alles begeisterte die Jury: „Die äußere Gestalt ist großzügig und würdig. Bei aller Monumentalität steht die Gliederung des Baus in richtigem Verhältnis zu dem sonst geringen Größenverhältnis.
Emanuel Alexander-Katz, Martin Ephraim, Rabbiner Siegfried Freund, aber auch die übrigen Preisrichter hatten sehr genau studiert, was seit etwa 1890 an theoretischen Werken und Forschungen zum Synagogenbau und seiner Ausgestaltung in Deutschland erschienen war.37 Da es für Synagogen keinen verbindlichen, traditionellen Bautyp gab, wurde immer wieder neu über die angemessene und erwünschte Erscheinung von jüdischen Sakralbauten diskutiert. Nachdem lange Zeit maurische und neoromanische Elemente den Synagogenbau geprägt hatten, mitunter Synagogen stark an Kirchen erinnerten, wollte man nach 1900 verstärkt eine neue klare Baudefinition und ein eigenes formales Repertoire dafür nutzen. Das Görlitzer Projekt zeigt sehr schön, was man damals als modern und eigen empfand: kubische Geschlossenheit, eine kompakte Form, monumentale Proportionen und ein Dekor, das nicht auf einen historischen Stil zurückgeht, sondern aus verschiedenen Quellen eine neue Synthese schafft.
Vom Bautyp her, mit zentralem Hauptraum mit Kuppel und Innenkuppel stand die bereits erwähnte 1907 vollendete Synagoge von Posen Pate für Görlitz – die Baukommission hatte dieses Werk wie erwähnt vor Ort genau studiert. Im gestaffelten Baukörper und dem Zentralraum der vornehmen Frankfurter Westendsynagoge, die ab 1908 im Bau war, fand man ebenso einen Anknüpfungspunkt wie an den dortigen schweren Einzelformen. Hinsichtlich des charakteristischen Turmmotivs konnte man sich in Görlitz zudem an der ebenfalls 1908 begonnenen Synagoge im fränkischen Bamberg orientieren. Wie innovativ und gelungen das Görlitzer Projekt damals angesehen wurde – verschiedene Bauzeitungen hatten es vorgestellt – zeigt der Umstand, dass für die wenig jüngere Essener Synagoge und vor allem für die monumentale (nicht erhaltene) Synagoge am Kottbusser Ufer in Berlin in den 1910er Jahren Elemente und Motive aus Görlitz vorbildhaft wurden. Der Görlitzer Bau spiegelte die wichtigsten aktuellen Tendenzen der modernen deutschen Synagogenarchitektur.
Dies gilt auch für die Pläne zur Innenraumgestaltung. Die neuesten Forschungen zu Geschichte und Form jüdischer Architektur und Kunst wurden dafür bemüht, beste Materialien ausgewählt. Lossow & Kühne vermochten die führenden Bildhauer und Maler aus der zeitgenössischen Dresdner Kunstszene zur Mitwirkung zu gewinnen.
Eine interessante Rolle spielte dabei die Mustersynagoge, die 1906 auf der 3. deutschen Kunstgewerbeausstellung eingerichtet wurde - selbstverständlich war dieser Raum nicht nur Lossow & Kühne, sondern auch den Görlitzer Bauinteressierten bestens bekannt: Der Archäologe, Kunstgewerbler und Architekt Heinrich Frauberger (1845-1920) hatte in Dresden seine bahnbrechenden, 1901 publizierten Erkenntnisse zu den damals noch bestehenden ostpolnischen Holzsynagogen und ihrer unglaublich farb- und symbolreichen Ausmalung in eine zeitgenössische Sprache übersetzt." Zwar hat die schlichte räumliche Anordnung von Fraubergers Dresdner Mustersynagoge ebenso wenig wie das dominierende Baumaterial Holz den Görlitzer Bau mitbestimmt, die dekorative bunte Ausmalung hingegen bot ebenso einen Anknüpfungspunkt wie die von Frauberger damit zitierten ostpolnischen Vorbilder. Hinsichtlich der Farbstimmung und der Motive war damit jener Musterraum eine Inspirationsquelle für die Görlitzer Synagoge. Bei der Projektierung für Görlitz vermieden die Dresdner Künstler freilich jegliche direkte historisierende Anbiederung. Doch mit den wiederkehrenden Zeichen von Menorah und Löwe, Blattkränzen, Schuppen, kräftigen Farben und bewusst eingesetzter Vergoldung bezogen sie sich auf die von Frauberger und ebenfalls von Felix Feuchtwanger propagierten „altjüdischen Formen" und eine reiche Bemalung, die „lebhaftes, morgenländisches Leben" spiegeln sollte.
Einen weiteren völlig neuen Bezug stellten sie zudem zu mesopotamischen Formen her und deuteten damit die historische Verflechtung des Judentums mit Vorderasien an, erinnerten somit auch an das Exil in Babylon: Der Archäologe Robert Koldewey (1855-1925) hatte 1897 die ersten Bruchstücke von emaillierten Ziegelreliefs mit Löwen- und anderen Tierdarstellungen in Babylon gefunden und nach Berlin gebracht, worauf er im Auftrag Kaiser Wilhelms II. ab 1899 systematisch in Babylon Ausgrabungen vornehmen konnte – nach seinen Befunden wurde dann später in Berlin das Ischtartor im Pergamonmuseum rekonstruiert. Zuvor war Koldewey in Görlitz 1895-1898 Lehrer an der Baugewerkeschule gewesen und hatte mit seinen Berichten und mitgebrachten Funden aus dem Vorderen Orient bei Kollegen und Bekannten viel Aufsehen erregt, so dass seine Entdeckungen hier gewiss auf besonderes Interesse stießen, zumal die ersten Publikationen der Deutschen Orient-Gesellschaft gerade auch in jüdischen Gelehrtenkreisen begierig aufgegriffen wurden. Der Löwenfries in der Görlitzer Synagoge dürfte einer der ersten künstlerisch umgesetzten Reflexe der damals bahnbrechenden Erkenntnisse Koldeweys gewesen sein.
Alles in allem erhielt Görlitz ein sehr vielschichtiges, innovatives und ungewöhnliches Synagogenprojekt. Nach der Grundsteinlegung wuchs der als eine der ersten Stahlbetonkonstruktionen in Görlitz realisierte Bau rasch in die Höhe – und zwar zur Freude aller trotz der reichen Ausgestaltung bei Einhaltung des Budgets! Schon im Dezember 1909 konnte das Richtfest gefeiert werden. Danach erfolgte die Ausführung der Stahlbetonkuppel. Die Turmkonstruktion – ein Eisenbetonskelett, das aus acht Stützen besteht, ausgesteift durch horizontale Verbindungen – hatte das besondere Interesse der Fachwelt und der lokalen Bausachverständigen auf sich gezogen. Für den über der unteren Stahlbetonkuppel offenen und über eine Öffnung im Kuppelscheitel verbundenen Hohlraum des Turmes stand als formale Idee zweifellos die Kuppelkonstruktion der Dresdener Frauenkirche Pate, hier jedoch konstruktiv ganz anders umgesetzt. So musste das ausführende Berliner Unternehmen (Allgemeine Bau-Aktien-Gesellschaft) erst besondere Belastungsproben nachweisen, bevor dieser ungewöhnlichen Konstruktion baupolizeilich zugestimmt wurde. Im September 1910 stand der Bau im Äußeren weitgehend vollendet da.
Über den Winter wurde am Inneren gearbeitet, schließlich erfolgten die Umgebungsarbeiten und im März 1911 – nach nicht einmal zweijähriger Bauzeit – war die Synagoge vollendet. Im „Neuen Görlitzer Anzeiger“ wurde regelmäßig über den Baufortschritt berichtet. Stolz wurden die ausführenden Firmen benannt, umso mehr als sämtliche Bauleistungen von Görlitzer Betrieben übernommen wurden: So führten die Baugeschäfte August Kämpfer und Bruno Voigt die Erd-, Maurer- und Zimmererarbeiten aus, die Firmen F. B. Neumann und W. Rudolph übernahmen die Granitarbeiten, H. Nicolaus die Asphaltierung und 91 die Gebrüder Körting die Heizungsinstallation. Die Tischlerarbeiten wurden von Oswald Fischer, Paul Heinze und den Gebrüdern Metzig realisiert, die Schlosserarbeiten von der Firma Wilke. Bodenfliesen und Terrazzoarbeiten führten Robert Kirchner und Johann Liva aus, die Linoleumböden verlegte Louis Karger, und Otto Straßburg lieferte die Teppiche. Für die künstlerische Ausgestaltung zogen Lossow & Kühne wie erwähnt Dresdener Spezialisten bei, die nicht nur wiederholt als erprobte Partner des Architekturbüros an der Ausgestaltung von Villen und öffentlichen Gebäuden beteiligt waren, sondern zu den führenden Künstlern der kunstgewerblichen Richtung in Dresden gehörten – Protagonisten des „Dresdener Jugendstils“ aus dem Umfeld der Kunstgewerbeschule. Den plastischen Stuck mit dem Löwenfries sowie weitere plastische Details wie die Schnitzereien der Türblätter entwarf Karl Groß (1869-1934). Für die dekorative Ausmalung zeichnete der Kunst- und Hofmaler Alexander Baranowsky (1874-1941) verantwortlich, die Glasfenster entwarf Joseph Goller (1868-1947), wobei die Ausführung durch die Firma C. van Treeck in München erfolgte. Die neue Orgel lieferte die Firma Bruno Schlag Söhne in Schweidnitz.
Gestalt und Erscheinung
Der vollendete Bau wurde 1911 in der „Deutschen Bauzeitung“ nach Angaben der Architekten knapp dargestellt und im zeitgenössischen Verständnis charakterisiert. Dieser Text sei deshalb hier einer kurzen Beschreibung des vollendeten Baus vorangestellt: „Der Grundriß zeigt eine zentrale Anordnung, bei welcher der Innenraum als kreisrunder Tempel in wirkungsvolle Erscheinung tritt. Vor den Hauptraum lagert sich eine geräumige Halle, an der zur Linken sich eine Kleiderablage für Frauen, zur Rechten eine solche für Männer befindet. Vor beiden Ablagen führen Treppen zur Frauen-Empore, die über der Halle liegt und in den kreisrunden Synagogen-Raum eingebaut ist. Zu beiden Seiten der Frauen-Empore sind die Kleider-Ablagen für Frauen mit den entsprechenden Nebenräumen angeordnet. Der Hauptraum berührt sich an den Seiten unmittelbar mit dem Aeußeren und erhält durch zahlreiche lange und hohe Fenster ein reiches Licht. In der Hauptachse schließt sich gegenüber der Eingangshalle an das Kreisrund die rechteckige Nische des Almemor mit dem Thoraschrein an. Hinter ihr wurde die Wochentags-Synagoge angeordnet, zu deren Seiten sich ein Zimmer für den Rabbiner und ein Vorraum mit Treppe zur Sänger-Empore, sowie ein Sitzungs-Zimmer befinden. Ueber der Wochentags-Synagoge wurde die Orgel aufgestellt, vor der die Sänger Platz nehmen. Unter ihr liegt im einzigen Teil, der unterkellert wurde, die Wohnung des Hausmeisters. Wie die Schnitte zeigen, ist der Synagogenraum mit einer flachen Kuppelschale abgedeckt, über der sich ein hoher Aufbau quadratisch mit abgestumpften Ecken und treppenartig gegliedertem Dach erhebt. Der Hohlraum des Aufbaues, der eine räumliche Verwendung nicht zu haben scheint, wird durch kreissegmentförmige Fenster erhellt.
Das Bauwerk ist in der Hauptsache in Eisenbeton ausgeführt. Entspricht die äußere Erscheinung lediglich dem Charakter des Materiales, aus dem das Bauwerk erstellt wurde, so ist das Innere in reicher Weise mit Farbe bedacht. Die Ausbildung der Vorhalle bereitet auf den Hauptraum vor, in dem ein dunkelbrauner und goldfarbener Löwenfries die Kuppel schmückt. Die Wände dieses Innenraumes sind dunkelgrau geputzt, die hölzernen Emporen-Brüstungen ruhen auf Steinsäulen aus Muschelkalk. Der Almemor ist von hohen Steinpilastern aus Muschelkalk umstellt; die zwischen ihnen liegenden Felder sind in giallo antico, einem Marmor von schön gelber, tiefer Farbe inkrustiert. Der frei vor dem Allerheiligsten stehende Kanzel-Aufbau ist in grünlichem Marmor, verde antico, ausgeführt. Hinter den Gittern, welche zwischen die Säulenschäfte aus Muschelkalkstein eingespannt sind, liegt die große Sänger-Tribüne, die demnach nicht frei in den großen Raum übergeht, sondern von diesem abgeschlossen ist. Die Kuppeldecke hat ein Schuppenmotiv erhalten. Die [...] Fenster lassen in ihrer großen Fläche reiches Tageslicht in das Innere fluten. Die künstliche Beleuchtung erfolgt durch ampelartige Beleuchtungskörper, die an langen Ketten aus der Kuppel hängen. Die lediglich durch Vor- und Rücklage gegliederte, flächenartig behandelte Eingangsseite hat an den tektonischen Gliederungen einen bescheidenen plastischen Schmuck erhalten [...] So entstand ein Bauwerk von eigenartiger Erscheinung des Aeußeren und künstlerischer Vollendung des Inneren. Offensichtlich gelang es im Zusammenspiel der Architekten und mitwirkenden Künstler ein Gebäude zu schaffen, das gerade in dem zuletzt angesprochenen spannungsvollen Wechselspiel zwischen monumental geschlossener Grundform und reicher Ausgestaltung 93 in besonderer Weise dem Zeitgeist entsprach. Im Stadtbild setzt die Synagoge bis heute einen eigenen Akzent. Ohne direkte Anlehnung an den Kirchenbau und ohne historistischen Orientalismus machen Größe, Proportionen und formale Würde des Baus seine kultische Funktion deutlich. Dem Turmaufbau, dessen Wände bis auf die unter dem Dach angeordneten Thermenfenster auf allen Seiten vollkommen geschlossen sind und der deshalb massiv und schwer wirkt, kommt die Rolle zu, nach außen hin die Präsenz der Gemeinde anzuzeigen und in der Stadtsilhouette von der Höhe her diskret, im Volumen jedoch deutlich wahrnehmbar der Synagoge einen festen Platz zu verschaffen. Das diesen Aufbau tragende Gebäude erscheint dagegen vielgestaltig: Zur Zugangs- und Hauptschauseite hin zitiert eine breit gelagerte Giebelfront in freier und von jeglichen direkten Vorbildern gelöster Form antike Tempelarchitektur. Die Seite zum Stadtpark hingegen wie auch die gegenüberliegende Längsseite zum Nachbarhaus sind ganz bestimmt durch das Spiel der reichen Befensterung mit getreppten und zweigeschossigen Fenstergruppen. Dadurch erscheint die Front mit ihrem bewegten Verlauf – den ausschwingenden Treppenhäusern und dem vortretenden Rund des Kuppelraumes ausgesprochen transparent, offen und funktional. Die kaum einsehbare Partie im Osten ist dagegen als Rückfassade ohne besondere Außenwirkung konzipiert.
Bauschmuck und Material folgen konsequent der architektonischen Anlage: Die Fassaden sind einfarbig in einem hellen Sandsteinton verputzt, was die Geschlossenheit des Baukörpers mit dem Turm betont. Im Relief differenzierter behandelt sind die Fenstergruppen und insbesondere die Portalfront mit ihrer durch Vor- und Rücklagen angedeuteten Portikusgliederung in Muschelkalkstein. Nur dort kam auch bauplastische Ornamentik zum Einsatz – von altorientalischen Motiven inspirierte Gesimse, Friese und Palmettenornamente. Das Mittelportal wird von einer als Würdezeichen verstandenen, vortretenden Umrahmung mit kraftvollem vegetabilen Randfries hervorgehoben. Im Tympanon sind die stilisierten Gesetzestafeln dargestellt. Darüber rahmen Pfeiler in Form stilisierter Palmen die unteren Fenster der Frauenempore ein. Während das große Thermenfenster darüber auch nach außen das Motiv einer Menorah in der Verglasung erkennen ließ, setzt im Giebelfeld ein Relief mit plastischem Davidsstern den Hauptakzent. Letzterer bildet zudem an den schweren eichenen, mit Schnitzdekor versehenen Türflügeln das im Rapport wiederkehrende Schmuckmotiv. Die im Innern folgende Vorhalle wies bereits eine in Farbigkeit und Materialeinsatz reiche Ausstattung auf, die Gediegenheit ausstrahlte und von der Raumstimmung her den Hauptraum antizipieren sollte. Über dem hellen, schwarz gefelderten Terrazzoboden wiesen die Wände der Vor- oder Brauthalle eine Sockelverkleidung aus grünen geschliffenen Steinplatten auf, die als rechteckige Rahmen auch die rundbogigen Türen einfassten. Dabei handelte es sich um Serpentinit von der griechischen Insel Tinos (verde Tinos). Goldfarbene Akzente setzten dazu die mit einem Volutenrapport versehenen Heizungsgitter und die Gitter der Bogentüren zum Hauptraum – beide aus Eisen mit Ölvergoldung – sowie die Deckenlampen.
Zur Erstausstattung gehörte auf der Südseite des Vorraumes die bereits erwähnte (heute nicht mehr erhaltene) Schrifttafel, die Emanuel Alexander-Katz' Verdienste um den Bau hervorhob: „In Verehrung und Dankbarkeit dem unermüdlichen Vorsitzenden des Gemeinde-Vorstandes, dem Stifter des Bauplatzes für die Synagoge, Herrn Commerzienrat Emanuel Alexander-Katz. / Heil dem Manne, der den Ewigen fürchtet und an seinen Worten Gefallen hat. Hell strahlet sein Licht auch in Finsternis, ist er doch gut und gerecht. Ps.112,1,4. Schlichter waren die Nebenräume und Treppenhäuser gestaltet, wobei sich auch dort der vornehme Charakter des Material- und Farbkonzeptes fortsetzte: Das Grün des Vestibüls erschien dort in einfachen grünen Bänderungen und Schablonierungen; die Treppenläufe wiesen Abdeckungen aus hellbunt gestreiftem schlesischen Marmor aus Großkunzendorf/ Stawniowice auf und die Wände der Frauengarderoben waren mit einer ockerfarbenen Felderung auf weißem Fond bemalt. Derart auf den Eintritt in den Hauptraum eingestimmt, überraschte dieser dennoch: nicht nur durch sein weites Rund, die großzügigen Proportionen, sondern vor allem durch die Pracht der kräftig-dunklen Farbigkeit, die reiche ornamentale Gestaltung und Kostbarkeit der verwendeten Materialien (Abb. 16-19): Die graue Grundfarbe der verputzten Wände, akzentuiert durch rote, ockerfarbene und schwarze Begleitlinien, erhielt durch die üppig gestaltete Flach kuppel, die leuchtenden Fenstergruppen und die formal und materiell als Höhepunkt hervorgehobene Ostpartie mit Almemor und Thoraschrein bewusst eine feierliche, erhebende Sakralität evozierende Wirkung. Ob im Dunkel der schwarz-rot-ocker grundierten Kuppel, den Farbornamenten der Fenster oder im graugrün-gelben Zusammenklang der Ostpartie überall setzte Gold einen besonderen Akzent. Dominierendes Motiv des Innenraumes ist der breite Fries am Kuppelrand, der vor dem Hintergrund stilisierter, roter Ranken und Blumen in Stuck plastisch angetragene und partiell vergoldete Löwenpaare zeigt, die jeweils ein umkränztes Medaillon mit den Zehngebotstafeln flankieren bzw. Medaillons mit Abbildungen der Menorah im Rücken haben. Ikonografisch nimmt das Motiv der Löwen symbolischen Bezug auf das Volk Israel: Dabei stellt die Kombination von Löwen und Zehngebotstafeln ein traditionelles Würdezeichen für die Ausgestaltung von Almemor und Parochet (Vorhang vor dem Thoraschrein) dar und ist entsprechend auch schon für die alte Görlitzer Synagoge überliefert.60 Formal war die Idee für diesen Fries (wie erwähnt) von den Malereien in den altpolnischen Holzsynagogen abgeleitet, die schreitenden Löwen zudem von den babylonischen Funden Koldeweys (später rekonstruiert in der so genannten Prozessionsstraße im Pergamonmuseum Berlin). Auch die Wurzeln für das mit goldenen Stuckprofilen den Raum großartig abschließende Schuppenornament der Kuppel dürften in der assyrischen Kunst zu suchen sein, Es könnte in Ableitung von der Mähne der besagten babylonischen Löwen entwickelt worden sein.
Von einem beträchtlichen Pathos gekennzeichnet ist sodann die Ostpartie mit ihren kannelierten Säulen aus Muschelkalk. Ihre Gestalt knüpft an die gravitätische dorische Ordnung an; die orientalisierenden Blattkapitelle laufen jedoch dem griechischen Kanon zuwider. Mit diesen Säulen wird hier das älteste und höchste jüdische Würdemotiv zitiert und an die Säulen Jachin und Boas im Tempel von Jerusalem erinnert. Während im oberen Teil zwischen den Säulen ein zartes Schuppengitter aus vergoldetem Eisen eine akustische Verbindung zu der auf der ultramarinblau ausgemalten Sängerempore platzierten Orgel mit ihrem unauffälligen Pfeifenprospekt herstellte, dominierten im unteren Bereich kostbare Steinverkleidungen. So ragte der Almemor (oder die Bimah) als rechteckiges Podest in den Gemeinderaum vor. Seine erhöhte Rückwand zum Thoraschrein sowie die niedrigere Front zum Saal waren mit Platten aus Verde antico verkleidet, einer lebendig geäderten Serpentinbrekzie aus dem griechischen Larissa. Seitlich führten Stufen aus rotem Kalkstein aus dem französischen Languedoc zum Podest hoch, dessen Fußboden mit weißen Platten aus schlesischem Marmor aus Großkunzendorf/ Stawniowice oder Saubsdorf/ Supíkovice bedeckt waren. Die Umrahmung des Thoraschreins und die Zwischenräume zwischen den Säulen bestanden aus gelbem, violett geäderten, geschliffenen Kalkstein, Giallo antico bzw. Giallo Siena, da er aus der Nähe der toskanischen Stadt stammte. Der Thoraschrein selbst wies aufwändig verkleidete Holztüren auf, deren Außenseiten mit plastischen Rhomben und Medaillons geschmückt waren. Das Innere des Schreins war komplett mit einem reichen Schablonenmuster ausgemalt: unter einem Sternenhimmel zeigt die gerundete Wandung geometrisch abgetreppte Felder in Rosa und Schwarz mit Davidsternen und Rosetten in Silber, Gold und Blau. Davor hing eine Ampel mit dem Ewigen Licht, während in den Gottesdiensten jeweils zwei elektrisierte Stand- und Wandleuchter den Almemor für die Thoralesungen erhellten. Zur weiteren Erhellung trugen die von Karl Groß entworfenen Deckenleuchter in Gestalt reich gegliederter Ampeln in den für ihn charakteristischen Jugendstilformen bei. Entscheidend für die Raumstimmung bei Tag waren jedoch die Fenster mit ihrer ornamentalen Verglasung: Während die Randstreifen und das achteckige Mittelornament jeweils vegetabile Formen in gedeckten, dem Kolorit der übrigen Ausstattung entsprechenden Farben – blau-lila und schwarz-braun – aufwiesen, belebt durch orangenfarbene und fast opake Goldfelder, blieben die mittleren Streifen weitgehend hell grünlich und gelblich, so dass viel Licht ins Innere strömen konnte. Abweichend von diesem Farbkonzept zeigte das große Thermenfenster an der Eingangswand ein dunkleres und flächendeckendes Bild der Menorah.
Schließlich sei auch noch auf die freitragend auf sechs Pfeilern ruhende Frauenempore verwiesen, die mit ihrem theatralischausladenden Schwung dem westlichen Teil des Kuppelraumes einen Horizontalakzent verleiht. Diese Empore ist proportional so geschickt eingefügt, dass die Offenheit der Raumkonzeption dadurch nicht beeinträchtigt wird. Trotz Fensterteilung und der mit kassettierten Schmuckpanelen versehenen Brüstung ist nicht der Eindruck von dominierender Zweigeschossigkeit entstanden.
Architektonisch und gestalterisch vollkommen unabhängig vom Hauptraum erschien die Wochentagssynagoge: Sie verdankte ihre sakrale Stimmung einzig der insgesamt dunkel erscheinenden, reichen Ausmalung, während die Raumkubatur zwangsläufig einen deutlich untergeordneten Charakter aufwies. Die Wände wiesen eine Fassung in tiefem Blau-Violett mit ockerfarbenen Rahmen auf. Über die gesamte Decke zog sich ein teppichartig opulentes rotes Ornament auf Goldocker mit stilisierten Ranken und Voluten. Eine stark farbige Ornamentausmalung erhielt zudem das Innere des Thorschreins mit dunkelblauem Rapportmuster aus Davidsternen auf dunkelrotem Fond. Möglicherweise kam dieser Raum dadurch der Dresdner Mustersynagoge von Heinrich Frauberger 1906 besonders nahe.
Das seitliche Rabbinerzimmer wies dagegen eine leuchtend rote Wandfassung mit einem ornamentalen Abschlussfries auf; im Sitzungszimmer waren die Wände mit einer umlaufenden, paneelartigen Bänderung in grau-brauner Farbigkeit gegliedert und die Decke mit einer grünen Kassettierung sowie schwarz-weißem Gliederungsornament bemalt.
Von der Einweihung zur Entwidmung
Die Einweihung der Synagoge am 7. März 1911 war ein gesellschaftliches Ereignis für Görlitz: Die Beteiligung von offizieller Seite war beträchtlich und das öffentliche Interesse übertraf die Anteilnahme an der Grundsteinlegung von 1909 erheblich. Tagelang wurde in den Zeitungen darüber berichtet. Der Oberregierungspräsident aus Liegnitz als Vertreter der Provinzial-Regierung, Oberbürgermeister und Stadtverordnete, Spitzen der Stadtverwaltung und der Kirchen nahmen am Festakt in der Synagoge teil. Zunächst hielt Emanuel Alexander-Katz eine Ansprache, der mit dem Entzünden des Ewigen Lichtes und dem Einzug der Thorarollen die eigentliche Weihe folgte. Die Festrede war sodann dem damals bereits seit zwei Jahren pensionierten Rabbiner Siegfried Freund vorbehalten. Darin wünschte jener: „Möge meine Gemeinde, die ich in den kleinsten Anfängen, ich möchte sagen noch im Windelbettchen und in den Kinderschuhen hier vorgefunden habe, zu besonderer Pracht gedeihen, sich weiterentwickeln und sich an dem Werk erfreuen, das sie heute eingeweiht hat.“ Zur musikalischen Umrahmung sang der Synagogenchor und auch die neue Orgel wurde gespielt. Im Anschluss an den Festakt lud Oberbürgermeister Georg Snay die Ehrengäste zum Empfang in die Stadthalle ein. Währenddessen stand das neue Bauwerk für die Görlitzer Bevölkerung zur Besichtigung offen, was offenbar sehr viele Interessierte anzog. Snay betonte in seiner Rede die Bedeutung der Synagoge als „Zierde der Stadt und dem Stadtbild ein hervorragendes Gepräge gebend durch die mächtige Kuppel.
Beim Blick auf die damalige Berichterstattung fällt die überaus positive Resonanz auf, die der Bau gefunden hatte. Auch in der lokalen nichtjüdischen Öffentlichkeit wurde die Errichtung des Neubaus und dessen Architektur ausschließlich positiv bewertet: „Ein wundervoller Kuppelbau, in dem die moderne Architektur gezeigt hat, was sie zu leisten vermag. Mit kostbarem Material ist nicht gespart worden und doch liegt über dem Ganzen eine unendlich vornehme Ruhe und Ausgeglichenheit. Wo man auch stehen, wohin man das Auge auch wenden mag: nirgends eine Stelle, die man als leer oder als vom Ganzen gelöst empfinden würde.“ In den folgenden Jahren entwickelte sich das großzügige Gebäude zum lebendigen Mittelpunkt der Gemeinde. Außer zu den Sabbatfeiern und sonstigen Gottesdiensten lud die Gemeinde auch zu Konzerten und Gedenkveranstaltungen ein – als Ausdruck von Kaisertreue und selbstverständlichem Patriotismus gehörten musikalisch ausgestaltete Kaisergeburtstage ebenso dazu wie Sedan-Feiern.
1914 starben mit Emanuel Alexander Katz und dem ehemaligen Rabbiner Siegfried Freund zwei wichtige Protagonisten des Synagogenbaus. Und im gleichen Jahr setzte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges der von Freund bei seiner Festrede 1911 geäußerten Hoffnung auf Erblühen und Wachstum der Gemeinde bereits ein jähes Ende. Auch für die Synagoge hatte der Krieg unmittelbare Konsequenzen: Schon 1915 wurde ein Teil des deckenden Kupferbleches von den Gesimsen und Abdeckungen der Treppenhäuser sowie anderes Metall für den Krieg abgegeben, 1917 das verbliebene Dachkupfer von fast einer halben Tonne. Zu beklagen hatte die Gemeinde aber vor allem den Tod von sechzehn Gemeindegliedern, die im Krieg für ihr Vaterland gefallen waren. Ihrem Andenken wurde eine Schrifttafel gewidmet, auf der unter einem Rahmenrelief mit Stahlhelm sämtliche Namen erschienen und die in der nordöstlichen Nische im Hauptraum der Synagoge angebracht wurde. Am 11. Juni 1921 fand die feierliche Enthüllung statt.
Nur zwölf Jahre später erlosch mit Hitlers Wahl jegliche Perspektive auf Beständigkeit, auf Sicherheit, auf Dauer – nach nicht einmal 27 Jahren Gemeindeleben im neuen Haus. Durch die schrecklichen Ereignisse in der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Jüdische Gemeinde in Görlitz vernichtet. Menschen, die 1909 und noch lange danach freundliche Mitbürger schienen, schändeten und versehrten das Symbol der Gemeinde, die Synagoge. Auf die Ereignisse in der Pogromnacht 1938, den erzwungenen Verkauf der Orgel an die katholische Garnisonsgemeinde St. Bonifatius das Ende der Synagogennutzung und die Pläne zum Abriss bzw. der Umgestaltung des Baus zum Hallenbad kann hier nicht eingegangen werden. Ebenso wenig auf die Nachkriegsgeschichte der Synagoge und ihre Rettung. Abschließend sei an dieser Stelle jedoch noch auf die architekturgeschichtliche Bedeutung des Bauwerks eingegangen.
Gekürzter Beitrag von Marius Winzler, Die Synagoge Görlitz-ihre Baugeschichte und architektonische Bedeutung, In: Markus Bauer, Siegfried Hoche (Hrsg.) Die Juden von Görlitz, Beiträge zur jüdischen Geschichte der Stadt Görlitz