Synagoge Görlitz

Bauwerk Synagoge Görlitz


Ein Bauwerk von europäischem Rang


Die Görlitzer Synagoge entstand am Ende einer einzigartigen Blütezeit des Synagogenbaus in Mitteleuropa – niemals wurden davor und danach ähnlich viele jüdische Kultbauten errichtet. Insofern kann und muss der Bau aus diesem besonderen historischen Kontext heraus betrachtet werden, gerade auch wenn es um seine Stellung in der Architekturgeschichte geht. Harold Hammer-Schenk charakterisierte die Erscheinungsformen des deutschen Synagogenbaus um 1910 und unterschied dabei zwei Tendenzen: „Die Vertreter eines neuen Monumentalstils versuchten unabhängig von historischen Vorbildern Formen zu schaffen, die die Ansprüche an die Repräsentation ebenso erfüllten wie die Architektur des Historismus. Die zweite Richtung in der Architektur dieser Jahre und damit auch im Synagogenbau orientierte sich stärker an historischen Vorbildern, die sie jetzt aber nicht mehr aus der Fülle des Überlieferten suchte, sondern aus dem relativ engen Bereich antikisierender Stile.“ Die Görlitzer Synagoge wies er der letztgenannten Richtung zu. Hinsichtlich der Bezugnahme zur Antike und zu einem entsprechenden Historismus spielte bei der Wahl ihrer Formen zweifellos die Suche nach dem „Altjüdischen“ eine Rolle, die damals in der Theorie des Synagogenbaus intensiv diskutiert wurde und beispielsweise in einer zeitgenössischen Beschreibung der 1910 geweihten Frankfurter Westend-Synagoge konkret formuliert ist: „In der schlimmen Zeit der historischen Baustile hat das Judentum auf die Schmuckformen maurischer Moscheen zurückgegriffen.“ Die neue Westendsynagoge hat auf [...] diese Formen völlig Verzicht geleistet und hat dafür Anregungen der frühen Zeit des jüdischen Altertums, der wuchtig-ernsten Welt der ägyptisch-assyrischen Baukunst entnommen Bezeichnenderweise fanden solche historisierenden Anlehnungen vor allem im Innenraum Anwendung, während die Synagogen nach außen hin mit zeitbedingt schlichter – „moderner“ – Monumentalität den direkten Bezug zur deutschen Gegenwart verdeutlichen sollten. Harold Hammer-Schenk interpretierte diese Dualität im Synagogenbau um 1910 als Ausdruck einer mentalen Befindlichkeit des deutschen Judentums: „Die Ausstattung des Innern der Synagogen mit orientalischen Motiven oder solchen, die als altjüdisch verstanden wurden, ist [...] auch als Fluchtbewegung vor den äußeren Realitäten einer gleichbleibend feindlichen Umwelt zu verstehen, der man sich in vermeintlich heimischen Formen entziehen zu können glaubte, obwohl man das in allen anderen Lebensformen bewusst nicht tat und auch gar nicht anstrebte. Bei einer solchen Betrachtungsweise erscheint auch der prächtige Innenraum der Görlitzer Synagoge als kultischer Rückzugs- und Identitätsort einer aufstrebenden Jüdischen Gemeinde in einem besonderen Licht.

 



Die Architekturgeschichte überliefert eine ganze Reihe von zeitgenössischen Synagogen, die für die Görlitzer Planung und Realisierung von Bedeutung waren. Das damalige Baugeschehen und die Kommunikationswege im Architekturwesen ermöglichten schnell umfassende Kenntnisse, die zudem durch eine reiche theoretische Literatur und Diskussionen in einschlägigen Fachzeitschriften untermauert werden konnten. Einige der für die Görlitzer Synagoge wichtigen Aspekte und Inspirationsquellen wurden bereits genannt. Ihr Bau kann demnach als Synthese der 1909 aktuellsten architektonischen Strömungen und Vorstellungen im liberalen deutschen Judentum betrachtet werden. Darüber hinaus aber vermag der Görlitzer Bau durch seine erhaltene Substanz sowie die materielle Beschaffenheit Zeugnis abzulegen und damit weitere Anhaltspunkte für seine zeitgenössische Bedeutung und die mit ihm verbundenen Visionen und Hoffnungen zu geben, wozu noch weitere Forschungen nötig sind. Dass dies aber überhaupt möglich ist, das ist es, was den Bau heute über die theoretische architekturhistorische Bedeutung hinaus so kostbar macht.


Im Unterschied zu der die Görlitzer Synagoge auszeichnenden Einheit von baulicher Hülle und innerer Ausstattung sind in der als Torso erhaltenen Synagoge von Posen heute keinerlei Restejener Gestaltung erhalten, die 1909 die Görlitzer Baukommission beeindruckt haben. Und in der 1938 ausgebrannten und danach bombardierten Westend-Synagoge in Frankfurt konnten nur Ansätze der einstigen Innenausstattung anhand von Fotos wiedergewonnen werden. Ganz auf eine Wiederherstellung der 1938 und danach vernichteten Ausgestaltung verzichtete man hingegen in Essen. Auch die erhaltene Synagoge in Wittlich – einem weiteren zeitlich und typologisch vergleichbaren Synagogenbau – präsentiert sich heute weitgehend ohne ihre einstmalige (nur zum Teil rekonstruierte) Innengestaltung. In Deutschland sind es einzig die gegenüber Görlitz etwas ältere Synagoge Rykestraße in Berlin, die jedoch typologisch und stilistisch als Längsbau eine andere Richtung in der Synagogenarchitektur verkörpert, und die etwas jüngere Synagoge in Augsburg, – ähnlich wie in Görlitz mit einem raumprägenden Schuppenornament geschmückt –, die als große jüdische Sakralbauten des frühen 20. Jahrhunderts erhebliche Teile ihrer originalen Innenausstattung bewahren konnten. Alle anderen vergleichbaren Bauten wurden 1938 und danach zerstört.

Die Görlitzer Synagoge ist jedoch nicht nur als erhaltenes und besonders qualitätvolles Zeugnis jüdischer Architektur bemerkenswert. Sie ist auch über den engeren Rahmen der bautypologischen Betrachtung als Zeugnis der Architektur ihrer Entstehungszeit von herausragender Bedeutung. Konstruktiv wurde mit ihrem Bau Neuland betreten – ihre innovative Betonkonstruktion hat Aufsehen erregt. Und auch in der architektonischen Gestalt repräsentiert die Görlitzer Synagoge weniger Tendenzen des späten Historismus als der frühen Moderne – wiederholt wurde der Begriff des „Modernen“ bei den zeitgenössischen Würdigungen hervorgehoben. „Modern“ waren die blockhafte Monumentalität, der Mut zur Geschlossenheit von Flächen und Kuben, Klarheit der Form, der zurückhaltende, jedoch sehr gezielte und deshalb stark zur Wirkung kommende Einsatz von Ornament und Dekor in der Architektur selbst, während in der Ausgestaltung – „Bekleidung“ und „Einkleidung“ des Baukörpers an Reichtum von Material und Schmuck nicht gespart wurde. Allerdings spielte auch dabei das Qualitätsbewusstsein und die Gediegenheit der Ausführung eine besondere Rolle – und dies wiederum waren besondere Markenzeichen für das Büro Lossow & Kühne, das mit diesem Bau ein Hauptwerk und ein beredtes Zeugnis für Leistungskraft und hohen Anspruch schuf. In Ermangelung eines eindeutigen und auch zeitgenössischen Stilbegriffs hat sich für die Architektur um 1910, wie sie in Görlitz neben der Synagoge ebenso das Kaufhaus zum Strauß, die Sparkasse und die Commerzbank an der Berliner Straße sowie vor allem die evangelische Kreuzkirche von Rudolf Bitzan verkörpern, die Bezeichnung „Reformarchitektur" eingebürgert. In einem weiteren regionalen Umfeld können neben repräsentativen Villen und Geschäftshäusern auch signifikante, typologisch ganz neue Bauten wie die frühen Krematorien von Dresden, Zittau und Reichenberg/ Liberec in einen Bezug zum Görlitzer Bau von Lossow & Kühne gesetzt werden. Doch auch dazu stehen erwünschte weitere Studien noch aus.


Zusammenfassend kann die Synagoge in Görlitz nicht nur als wichtiges Beispiel für die charakteristischen Tendenzen im deutschen Synagogenbau kurz vor dem Ersten Weltkrieg gelten, sondern auch als herausragendes Werk der sogenannten „Reformarchitektur“. Im mitteleuropäischen Zusammenhang darf der Bau durch seine Erhaltung heute eine einzigartige Zeugenschaft beanspruchen und für Görlitz und seine Bewohner ist die Synagoge ein Denkmal für ein schmerzhaft abgeschlossenes Kapitel der Stadtgeschichte und ein Mahnmal von allergrößtem Gewicht.

Gekürzter Beitrag von Marius Winzler, Die Synagoge Görlitz-ihre Baugeschichte und architektonische Bedeutung, In: Markus Bauer, Siegfried Hoche (Hrsg.) Die Juden von Görlitz, Beiträge zur jüdischen Geschichte der Stadt Görlitz