Die Sage von der Verrätergasse
Man mache sich einmal den Spaß und beobachte die Passanten auf dem Obermarkt, wenn die Turmuhr der Dreifaltigkeitskirche die volle Stunde schlägt. Fast jedesmal wird man sehen, wie einzelne erstaunt auf ihre Armbanduhren schauen und in Zweifel geraten, ob ihre hochmodernen Zeitanzeiger etwa plötzlich sieben Minuten nachgehen.
Aber mit der Turmuhr hat es seine eigene Bewandtnis. Von altersher heißt dieser Kirchturm "der Mönch", und ertönt seine Uhrglocke, so heißt es einfach, "der Mönch schlägt". Denn der Turm gehörte vor 1565 zur Klosterkirche der Franziskaner. Solange man zurückdenken kann, hörte man den Stundenschlag der Turmuhr immer sieben Minuten vor der Zeit.
Spaßvögel erklärten das wohl damit, die Rathausleute sollten auf diese Weise einen Wink bekommen, sich rechtzeitig zum Mittagessen auf den Weg nach Hause zu begeben, um die Ehefrauen nicht zu verstimmen. Andere brachten das vorzeitige Läuten mit dem Kloster-Gymnasium in Verbindung. Säumige Langschläfer unter den Schülern sollten, so meinte man, dadurch aufgeschreckt und ermahnt zu werden, die Beine in die Hand zu nehmen, damit sie noch rechtzeitig zum Unterricht kämen. Meistens aber heißt es, das merkwürdige Vorgehen der Mönchs-Uhr habe etwas mit jener engen Gasse zu tun, die von der gegenüberliegenden Seite des Platzes zur Langenstraße führt und den ungewöhnlichen Namen "Verrätergasse" trägt.
Nach dieser Sage hatten sich 1527 unzufriedene Bürger zusammengetan, den Rat abzusetzen, seine Mitglieder umzubringen und die Stadt gar in Brand zu stecken. Die Verschwörer kamen in einem Haus in der Langengasse, das gerade neben dem Eingang des schmalen Gässleins liegt, durch ein Hinterpförtchen zusammen, und dort besprachen sie ihren Aufstandsplan. Gewöhnlich blieben sie bis Mitternacht beieinander und schlichen erst nach Hause, wenn der Nachtwächter seinen Abgesang gemacht hatte und die Gassen einsam lagen. Eines Nachts jedoch schlug die Turmuhr vom nahen "Mönch" sieben Minuten zu früh. Der Nachtwächter bemerkte aus einiger Entfernung, wie schattenhafte Gestalten vorsichtig aus dem Hinterpförtchen kamen und davonhuschten. Er schöpfte Verdacht, zeigte die Sache auf dem Rathause an, und so kam der Aufstandsplan heraus. Die Verschwörer wurden auf dem Fischmarkte vor dem früheren Stockhaus hingerichtet.
Das Seitengässchen bekam fortan den Namen "Verrätergasse". An dem Hinterpförtchen aber ließ der Rat eine steinerne Tafel anbringen, die heute noch zu sehen ist. Sie trägt die Buchstaben "D V R T" und die Jahreszahl 1527. Seit Jahrhunderten deutet man die vier Buchstaben als eine Abkürzung für "Der verräterischen Rotte Tür". Die Mönchs-Uhr wurde seither immer so gestellt, dass sie sieben Minuten zu früh die volle Stunde schlägt. Und die Alteingesessenen wissen das genau.
Man vermutet gewiss nicht grundlos, niemand anders als der mächtige Oberstadtschreiber Johannes Haß habe nach seinem Sieg über die Tuchmacher das alles so angeordnet. Wahrscheinlich sollte den zufriedenen Handwerkern damit gedeutet werden, was für ein böses Ende es nähme, legte man sich noch einmal mit den Mächtigen der Stadt an. Die ermordeten Kämpfer für das Bürgerrecht sollten vor der Nachwelt als verantwortungslose Brandstifter und als Verräter an der Stadtgemeinschaft einen schlimmen Ruf bekommen. Bis in die jüngste Zeit ist ja derartiges in unserer Geschichte nicht einmal so selten gewesen. So mag man sich seinen eigenen Vers drauf machen, liest man das Straßenschild "Verrätergasse" und hört man die Mönchs-Uhr, wie gewöhnlich, sieben Minuten vor der Zeit schlagen.
Text: Dr. Ernst Kretzschmar